Mord und Zeitreise - Teil III
- Jelynn
- 18. Sept. 2019
- 16 Min. Lesezeit
Eigentlich wollte Tanja Niko helfen, einen Mord aufzuklären, der in der Zukunft stattfindet. Als die Ermittlung ins Leere führt, trennen sich jedoch ihre Wege.
Missmutig begab sich Tanja auf den Heimweg. Sie dachte an Niko, den Zeitreisedetektiv mit dem Kindergesicht. Dass er sie einfach so hatte stehen lassen, verletzte sie. Er hatte sie schliesslich angesprochen. Während sie durch die verwinkelten Gassen der Altstadt heimwärts schlenderte, spielte sie den Nachmittag vor ihrem inneren Auge ab. Sie hatte nur eine Stunde mit Niko geredet, doch es fühlte sich länger an. Der plötzliche Adrenalinstoss der Rush-Watch, die Geschichte des Mordopfers, die Analyse der Verdächtigen, sie hatte noch nie etwas so Aufregendes erlebt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie geglaubt, etwas bewirken zu können, nützlich zu sein. Sie seufzte, als sie daran dachte, wie seine vornübergebeugte Figur im Stechschritt verschwunden war. Klar hatten sie ihr Ziel nicht erreicht, doch das war kein Grund, sie ohne Abschied fallen zu lassen.
Unwillkürlich warf Tanja einen Blick über ihre Schulter, als sie sich einer besonders engen, verlassenen Seitenstrasse näherte. Normalerweise wurde ihr hier nur nachts flau im Magen, aber der Mordfall hatte sie wohl paranoid gemacht. Sie betrachtete die abrissbereiten Häuser mit den kaputten Fenstern, welche diese Strasse zu einem berüchtigten Schandfleck machten und beschleunigte ihren Gang. Tanjas Schuhsohlen knallten auf das unebene Pflaster und durchbrachen die unheimliche Stille wie Pistolenschüsse. Erst als der schäbige Teil vorbei war, entspannte sie sich. Nur noch ein paar Minuten bis nachhause.
Leise verfluchte sie diesen Tag, der alles verändert hatte. Selbst wenn sie nie wieder mit einem Zeitreisedetektiv zu tun haben würde, ein normales Leben war unmöglich, nun da sie davon wusste. Wenn Hogwarts echt wäre, würde niemand mehr Muggelschulen besuchen wollen. Tanja dachte darüber nach, wie dann wohl ihr Leben aussehen würde. Der Tagtraum wurde von einem hellen Glockenspiel unterbrochen. Es war ihr Klingelton! Sofort wühlte sie sich durch den Inhalt ihrer Handtasche, so hektisch, dass ein Kugelschreiber herausfiel. Als sie sich reflexartig bückte, um ihn aufzufangen, registrierte sie eine schnelle Bewegung über ihrem Kopf. Sie fuhr herum, richtete sich auf und fand sich einem Mann gegenüber, der eine Spritze in der Hand hielt und sie mindestens genauso entgeistert anstarrte wie sie ihn.
«Wa...», Tanja brach ab, als sie ihn erkannte. Es war der ältere Mann aus dem Café, ohne Kopfhörer und Milchschaum am Bart. Stehend sah er ganz anders aus. Sie hatte ihn zuvor als behäbig wahrgenommen, einen gemütlichen Mann, doch nun schien jeder seiner Muskeln angespannt. Sein Gesicht hatte eine gräuliche Farbe angenommen und er versteckte die Hand mit der Spritze langsam hinter seinem Rücken. Tanja fühlte sich wie in Trance. «Warum?», fragte sie schliesslich. «Ach verdammt», flüsterte er, «ich kann das nicht.» Dann drehte er sich um und rannte. Instinktiv nahm Tanja die Verfolgung auf. Ihr Herz pochte hart in ihrer Brust und Wände mit abgeblättertem Putz sausten links und rechts an ihr vorbei. Er war schneller als sie ihm zugetraut hatte und der Abstand zwischen ihnen vergrösserte sich stetig. Vielleicht war es besser so, dachte sie, während sie versuchte das scharfe Stechen in ihrer Seite zu ignorieren. Selbst wenn sie ihn einholen würde, was dann?
Sie verlor weiter an Geschwindigkeit und er war schon fast am Ende der Seitenstrasse. Würde er die Hauptstrasse erreichen, hätte sie keine Chance. Er könnte sich überall verstecken. Tanja gab verzweifelt noch einmal Gas, als sie etwas an ihrem rechten Ohr vorbeisausen hörte. Ein brauner, gebogener Gegenstand, der pfeilschnell auf den Flüchtenden zusteuerte. Mit einem dumpfen Geräusch prallte der Gegenstand gegen den Kopf des Mannes, der erst ins Straucheln kam und schliesslich zu Boden ging. Tanja erreichte ihn wenige Sekunden später und stand für einen Moment unschlüssig da. Dann gab sie sich einen Ruck und kauerte neben seinen bewusstlosen Körper, vorsichtig, als wäre er ein Raubtier, das jeden Moment wieder zu sich kommen könnte.
Behutsam drehte sie seinen Körper um, sodass sein Gesicht nach oben gerichtet war. Er sah wieder so aus wie im Café, müde, harmlos, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Aus einer kleinen Wunde an seiner Schläfe trickelte Blut, doch er schien normal zu atmen. Tanja überlegte, wo die braune Waffe sein könnte, als sie plötzlich eine warme Berührung auf der Schulter spürte. Niko stand neben ihr, eine Hand auf ihrer Schulter, in der anderen einen Bumerang. Wäre die Situation nicht so verwirrend gewesen, hätte sie vermutlich laut losgelacht.
«Hallo», Niko lächelte verlegen. Tanja erwiderte das Lächeln, bevor sie fragend die Augenbrauen hochzog und auf den Bewusstlosen deutete. Sie hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging und er schien der einzige Mensch zu sein, der noch den Durchblick hatte. «Was zum Teufel ist hier los?», fragte sie. «Das ist eine grosse Frage, die ich nur teilweise beantworten kann. Schneewittchen hier», mit dem Fuss stupste er den ohnmächtigen Mann an, «kann mir hoffentlich helfen, die letzten Lücken zu füllen.» Tanja verzog das Gesicht. «Könntest du bitte trotzdem schon mit dem Erzählen anfangen?» «Gleich, erst müssen wir einen Ort finden, wo uns niemand zufällig entdecken kann.» Noch während er sprach drehte er sich den heruntergekommenen Häusern auf ihrer Seite zu. Er schaute durch die Fenster und zeigte entschlossen auf ein Exemplar, dass vermutlich einmal pastellblau gewesen war. Gemeinsam hievten sie den Mann hinein und setzten sich neben ihn auf den Boden. «Los jetzt», sagte Tanja und boxte ihn in die Seite.
«Also», Niko stockte, «ich weiss nicht, wie ich dir das schonend beibringen soll.» «Wie ein Pflaster, einfach heftig abreissen», sagte Tanja und setzte sich auf ihre zitternden Hände. «Du bist das Mordopfer, die junge Frau, die in ihrer Wohnung ermordet wird. Es war dein Mörder, den wir gesucht haben. Nun hat er allerdings dich zuerst gefunden, und dann erst noch einen halben Tag zu früh. Und du lebst! Wie soll ich das wieder geradebiegen?» Niko sank in sich zusammen und rieb hart seine Schläfen. «Ich dürfte mich nicht einmischen, nichts verändern. Ermitteln und aufklären, so lautet der Befehl. Ich bin so gut wie gefeuert.»
Tanja schaute im direkt in die Augen. Während seinem Monolog hatte sich Kälte in ihrem Inneren ausgebreitet, nun war sie ganz ruhig.
«Es tut mir schrecklich leid, dass mein versäumtes Ableben dir ungelegen kommt.» Er schaute sie an, als hätte sie ihn geschlagen. «So habe ich das nicht gemeint Tanja. Ich bin unendlich froh, dass du lebst», er nahm kurz ihre Hand und drückte sie, «ich weiss nur nicht, wie ich das Ganze dem Inspektor erklären soll. Ich bin schon zweimal verwarnt worden und…», er unterbrach sich, «das ist jetzt nicht wichtig, ich kümmere mich später darum. Was möchtest du wissen?»
Die Fragen sprudelten nur so aus ihr hervor. «Wie konntest du genau im richtigen Moment helfen? Bist du mir gefolgt?», sie lächelte schwach, «und was hat es mit dem Bumerang auf sich?»
«Also», begann er, «ich hatte von meinem Zeitsprung noch einige Stunden übrig und bin dir gefolgt, weil ich gehofft habe, dass der Mörder dasselbe tut und dich vor seiner Tat beobachtet.» Tanjas Magen zog sich zusammen, als ihre Blicke auf den Bewusstlosen fielen, der zwischen ihnen lag. «Doch das alleine hätte nicht geholfen. Er war vorsichtig, ich habe ihn nicht gesehen bis er die Spritze hervorgeholt hat. Zum Glück fiel der Kulli aus deiner Tasche, ich wäre zu langsam gewesen.» Für einige Sekunden herrschte beklemmendes Schweigen, bis er nervös kicherte. «Den Bumerang habe ich, weil Zeitreisedetektive keine Schusswaffen bei sich tragen dürfen.»
Tanja prustete, erleichtert, dass ihre Anspannung ein Ventil gefunden hatte. «Das sagt viel über dich aus Niko», sie wischte sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel, «dass für dich nach Pistolen dieser Bumerang die nächste logische Option zur Verteidigung ist.» Niko grinste verlegen, als ein Stöhnen ihr Gespräch unterbrach.
Stumm beobachteten sie, wie sich der zuvor regungslose Mann in ihrer Mitte langsam aufrichtete und seinen Kopf befühlte. «Was zum…?», sein fassungsloser Blick fiel erst auf seine rot-befleckte Hand, dann auf Niko und schlussendlich Tanja. Scham breitete sich über seine Gesichtszüge aus. Tanja rückte kaum merklich von ihm weg und zog ihre Knie an sich. Niko räusperte sich und seine Knöchel traten hervor, als er den Bumerang umklammerte. «Wer bist du und warum möchtest du Tanja töten?»
Der alte Mann schluckte leer. «Ich nehme einmal an, ihr werdet mir nicht erzählen, wer ihr seid und wieso mich ein Bumerang ausgeknockt hat?» Als Tanja und Niko stumm den Kopf schüttelten, zuckte er mit den Schultern, bevor er langsam und mit brüchiger Stimme antwortete. «Mein Name ist Peter Messing. Ich wollte… ich will das Mädchen nicht töten.» «Dann ist das in deiner Spritze wohl kein hochkonzentriertes Kokain, das du ihr injizieren wolltest.» Peter schüttelte heftig den Kopf, «von wollen kann keine Rede sein! Ich wollte sie nie töten und ich konnte es nicht, nicht als es wirklich hart auf hart kam», verzweifelt wandte er sich Tanja zu, «als du mich angeschaut hast… Du bist etwa im selben Alter wie meine Tochter.»
«Wie gesagt, ich bin kein Mörder», er seufzte, «ich habe in meinem Leben viele schlechte Entscheidungen getroffen, Entscheidungen, für die ich die letzten Jahre gebüsst habe. Mord gehörte nie dazu. Doch kaum hatte ich vor drei Monaten meine Zeit im Gefängnis abgesessen, bin ich direkt in die nächste Falle getappt. Ich habe mich auf einen Job beworben.» Tanja runzelte die Stirn. «Was für einen Job?» Er lachte freudlos auf, «Hauswart. Im Nachhinein hätte ich merken müssen, dass etwas faul ist, so wie die Jobanzeige geschrieben war. Wahrscheinlich bin ich der einzige Sträfling, der darauf reingefallen ist. Wir glauben, dass jeder eine zweite Chance verdient hat und so weiter», doch ich war zu verzweifelt, um mein Glück zu hinterfragen, als ich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde.»
Seine Augen wurden feucht und er unterbrach sich, bevor er mit leiser Stimme weitersprach. «Als ich ins Gefängnis gehen musste, war meine Tochter kaum 13 Jahre alt. Ich habe alle wichtigen Momente verpasst, all ihre Sorgen. Ich konnte nicht für sie da sein», ein trauriges Lächeln spielte um seine Mundwinkel, «und jetzt ist sie schwanger, meine Kleine, von einem Feigling der nicht schnell genug ein Flugticket kaufen konnte als er davon erfuhr. Ihre Mutter lebt in der Nähe mit ihrem neuen Freund, aber sie hatte vor drei Jahren einen Unfall und die Invalidenbeiträge reichen ihr knapp zum Überleben. Sie kann Katja und unser Enkelkind finanziell nicht unterstützen. Ich wollte helfen, für einmal ihr Vater sein und ihr Leben einfacher machen, aber diese Schweine haben mich hereingelegt.»
Peter schwieg, er sah so niedergeschlagen aus, dass Tanja kurz das Bedürfnis verspürte, ihm Trost zu spenden. Von der Art wie er sprach spürte sie, wieviel ihm seine Tochter bedeutete. Doch als sie ihm instinktiv eine Hand auf die Schulter legen wollte, dachte sie an die Spritze und verschränkte stattdessen ihre Arme vor der Brust. «Erzähl weiter», forderte sie ihn auf, «wer hat dich hereingelegt?» «Die beiden Jungs vom Café vorher. Ihr habt sie bestimmt gesehen, sie waren mit den Laptops dort.» Tanja und Niko tauschten einen Blick aus und nickten.
«Nun ja, sie haben mich in eines dieser gläsernen Hochhäuser eingeladen, diejenigen mit Schleusen als Eingang, wo man eine Eintrittsbewilligung braucht. Ich war völlig von den Socken und habe mir schon vorgestellt, wie gut die Bezahlung wohl sein wird. Doch als wir im Konferenzraum sassen, kam gleich Klartext. Sie haben mir gesagt, ich solle mich gut umschauen, dass dieses Gebäude und der ganze Konzern ihren Vätern gehört und dass sie mich sofort des Diebstahls bezichtigen und wieder ins Gefängnis bringen könnten, wenn ich nicht täte, was sie mir sagten. Ich würde meinen Enkel nie halten können.»
Peter rieb sich die Augen. Als er wieder aufsah, kam es Tanja vor als hätten sich seine Falten verdoppelt. «Es ging um einen Mord, den sie schon seit längerem planten. Einer ihrer Mitstudenten von der Business School, ein Programmierer, hatte sie an einer Party zugetextet. Er war wohl ziemlich betrunken und wollte sie beeindrucken, jedenfalls hat er ihnen von seiner Geschäftsidee erzählt, die ihm massenhaft Geld einbringen würde. Irgendetwas mit Banken und Software, keine Ahnung. Es muss ein ziemlich grosses Ding sein, die beiden Jungs waren ganz zittrig, als sie davon sprachen. Jedenfalls wollten sie ihn überzeugen, ihnen die Rechte am Geschäftsplan und der Software zu verkaufen, aber er liess sie abblitzen. Deswegen beschlossen sie, die Idee einfach zu stehlen. Hier kam ich ins Spiel. Ich sollte ihn entführen und zwingen, alle Bestandteile seines Businessplans preiszugeben. Danach…», er fuhr sich mit dem Daumen über die Kehle.
Tanja zog die Augenbrauen zusammen. «Und was hat das Ganze mit mir zu tun?»
Peter wandte sich betrübt ihr zu. «Du hattest einfach Pech. Die Jungs waren oft im Café, um zu planen. Sie dachten wohl die Chance wäre geringer, dass sie jemand kennt und die Ohren spitzt. Trotzdem waren sie vorsichtig und hatten immer abdunkelnde Folien auf den Laptops.» Tanja nickte, sie hatte sich ab und zu schon darüber gewundert. «Nun, vor etwa einer Woche hatte einer von ihnen keine Folie dabei. Du bist an ihm vorbeigelaufen, wahrscheinlich, um aufs Klo zu gehen oder so, jedenfalls hattest du volle Sicht auf den Bildschirm. In dem Moment hat der andere Typ, der Programmierer, sie über Skype angerufen, um sich für die Abfuhr zu entschuldigen und die Wogen zu glätten. Wahrscheinlich wollte er nicht die Kinder von zukünftigen Kunden gegen sich haben, wer weiss. Du hast sein Gesicht gesehen, deswegen wollen sie dich weghaben.»
«Das verstehe ich nicht! Ich habe ja nicht richtig hingeschaut und hatte keine Ahnung, worum es geht.» «Trotzdem war das Risiko für sie zu gross. Sie wollten ihn in der Woche darauf verschwinden lassen. Was wäre denn passiert, wenn sein Bild dann überall in den Nachrichten gezeigt worden wäre? Vielleicht hättest du dich doch noch an ihn erinnert und zum Hörer gegriffen. Die Chance war nicht gross, aber sie konnten es sich nicht leisten, Zeugen zu haben die sie näher mit ihm in Verbindung brachten als einen einfachen Klassenkameraden.» Tanja ballte ihre Fäuste. Wut brannte in ihrem Magen, als hätte sie ein Stück Kohle geschluckt. Ihr Leben wäre beinahe zu Ende gewesen, nur weil sie unwissentlich die Pläne von zwei geldgeilen Schnöseln durchkreuzt hatte.
«Aber etwas verstehe ich nicht», meinte Niko, «wieso hast du sie jetzt angegriffen, am helllichten Tag?» «Kurzfristige Planänderung», sagte Peter, «wir sassen heute alle im Café, so dass sie mir das Prepaid-Telefon übergeben konnten, in dem deine Nummer eingespeichert war. Heute Abend hätte ich dann angerufen und vorgegeben, dass ich ein Notizbuch mit deiner Nummer gefunden hätte und es zurückgeben wolle. Du hättest mich vermutlich in deine Wohnung gelassen und sonst wäre ich eingebrochen. Einbrechen ist meine Spezialität.»
Peter deutete auf Niko, «als dann du aufgetaucht bist, dachten die Jungs, du wärst ihr Freund. Wenn du heute Abend zu ihr gegangen wärst, hätte das alle Pläne durchkreuzt. Die beiden haben Panik gekriegt und alles vorverlegt. Sie haben mir Tanjas Telefonnummer gegeben, sodass ich sie auf dem Heimweg in einem günstigen Moment ablenken und ihr das Kokain spritzen kann.» Beschämt schaute er auf den Boden. Tanja wandte sich ab, sie konnte ihn nicht ansehen.
«Ist alles okay?», Niko und Peter musterten sie besorgt. Für einen Moment war es still. Dann antwortete Tanja mit ruhiger Stimme. «Nichts ist okay. Ich habe mir nie viel Gedanken über mein Leben gemacht, oder darüber, dass ich irgendwann sterben muss. Aber zu erfahren, dass ich ermordet wurde, dass mir mein Leben einfach weggenommen wurde…», sie brach ab. «Aber du lebst», sagte Peter, «es tut mir Leid, dass ich mich habe erpressen lassen und dein Leben gegen meins eingetauscht habe, aber ich habe es nicht durchziehen können. Du lebst.» Er versuchte ein Lächeln und streckte die Hand aus, um ihre Schulter zu tätscheln, doch sie rutschte weg und wandte sich an Niko, «Was tun wir jetzt?»
Stille folgte. Tanja seufzte, stand auf und ging unablässig von einer Seite des Raumes zur anderen. Nikos richtete seinen Blick auf das staubüberzogene Fenster und Peter kratzte sich am Kopf. Plötzlich klatschte Niko in die Hände, «ich hab’s!» Er stand auf, ging zum Fenster und bedeutete den anderen, näherzukommen. «Ich denke wir sind uns einig, dass unsere ungewöhnliche Situation mehrere Probleme aufwirft. Was machen die beiden Möchtegern-Unternehmer mit dir, Peter, wenn Tanja nicht stirbt, musst du, Tanja, nun untertauchen, und so weiter.» Tanja und Peter nickten. Davon ermutigt, fuhr Niko fort. «Meine simple Schlussfolgerung: Wir können mindestens die Hälfte all unserer Probleme lösen, indem wir die zwei aus dem Spiel nehmen.»
Tanja runzelte die Stirn. Sie wusste nicht, was sie von dieser Idee halten sollte. Die beiden waren schlechte Menschen und die Welt wäre besser dran ohne sie, daran zweifelte sie nicht, trotzdem kam sie um einen Stich der Enttäuschung nicht herum. Irgendwie hatte sie auf eine elegantere Lösung gehofft als Mord. «Wenn es sein muss mach ichs», brummte Peter, «dabei hatte ich mich gerade an den Gedanken gewöhnt, niemanden umbringen zu müssen.» Niko riss die Augen auf, «nein nein nein, nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich habe einen Weg, die beiden zu entfernen, ohne sie zu töten. Ihr könnt den Teil des Problems als erledigt betrachten. Nein, was mir Sorgen macht, ist die Zeit», er wandte sich Peter zu, «ich bin Zeitreisedetektiv musst du wissen.»
Peter zuckte schwach mit den Schultern. Es war klar, dass er kein Wort davon glaubte, was ihm Niko erzählte, «es ist mir ehrlichgesagt egal, was du bist oder wie du die beiden Kriminellen loswirst. Alles was ich wissen will ist, wann ich zu meiner Tochter gehen kann.» Niko nickte nachdenklich, «ist notiert. Du kannst jetzt nachhause gehen, wir kümmern uns um den Rest.» Tanja schauten Niko entgeistert an, doch Peter liess sich nicht lange bitten. Er war schon fast bei der Tür, als er sich umdrehte und mit angewidertem Gesichtsausdruck die Spritze aus seiner Jackentasche nahm. Er legte sie auf den Boden, wischte sich die Hände an den Hosen ab und wandte sich Tanja zu. «Ich weiss nicht, ob du mir je verzeihen kannst, doch ich will es trotzdem sagen. Es tut mir sehr, sehr Leid. Ich bin unglaublich froh, dass du überlebt hast.» Tanjas Kehle schnürte sich zu, so nickte sie lediglich. Peter verschwand.
«Nun zum wichtigsten Teil», Niko fuhr fort, als wäre nichts passiert. Er zog eine gerade Linie durch den Staub am Fenster. «Hier sind wir», er tippte mit der Fingerspitze auf den Anfang der Linie, «und hier komme ich her», er tippte auf das Ende. «Meine Aufgabe war es eigentlich nur, deinen Mörder zu finden und in der Datenbank niederzuschreiben. Wie du aber weisst, habe ich mich nicht damit begnügt. Unser grösstes Problem ist nun, dass wir die Gegenwart so biegen müssen, dass sie die Zukunft nicht verändert. Die Bankensoftware, welche der unglückselige Programmierer erfunden hat, muss beispielsweise an den Markt gebracht werden. Peter kann zurück zu seiner Familie, weil er in der Zukunft nach den Morden tatsächlich Zeit mit seiner Tochter und seinem Enkel verbringen konnte.»
Tanja schluckte, «aber wenn wir die Schnösel aus der Gegenwart entfernen, geht die Software nicht an den Markt, richtig?»
«Jein», Niko seufzte, «wahrscheinlich bringt der Programmierer die Software selbst heraus, dieses Problem wird sich von selbst lösen.» «Oh nein», sagte Tanja leise, «bin ich etwa das letzte Problem?» «Von einem Zeit-Standpunkt aus, ja, aber wir finden gemeinsam eine Lösung, ganz bestimmt!» Tanja spürte, wie sich ihr Hals verschloss und die Tränen heiss hinter ihren Augen brannten. «Wieso bin ich ein Problem?»
«Weil du nicht mehr hier sein solltest.»
Tanja und Niko drehten sich um, mit geballten Fäusten und gezücktem Bumerang, und starrten in den dunklen Gang gegenüber dem Fenster, wo die Stimme hergekommen war. «Zeige dich!», verlangte Niko. Mit langsamen Schritten trat eine kleine, rundliche Frau in das Zimmer. Ein Lächeln umspielte ihre rot umrandeten Lippen, welches ihr einen gutmütigen Ausdruck verliehen hätte, wäre da nicht die Kälte in ihren Augen gewesen. «Hallo Niko, Tanja», sie nickte ihnen zu, wodurch ihre blonden, schweren Locken vor und zurück wippten. Tadelnd erhob sie den Zeigefinger. «Was machen wir denn nun mit euch zweien?»
Fragend blickte Tanja in Nikos Richtung, doch dieser schien zur Salzsäule erstarrt. «Oh Niko, was ist denn mit dir los? Willst du mich nicht vorstellen?», amüsiert zog sie die Augenbraue hoch, dann wandte sie sich Tanja zu. «Hallo Kindchen, mein Name ist Angelika und ich arbeite für das Büro der Zeitreisedetektive. Zeitreisedetektive, hast du davon schon gehört?» Tanja nickte. Angelika klatschte in die Hände, «wunderbar, einfach wunderbar. Niko du bist ein echter Teufelskerl. Weisst du, dass wir Wetten abgeschlossen haben nach deiner letzten Verwarnung?», sie kicherte, «ich habe gewettet, dass du keine drei Aufträge schaffst, ohne wieder zu versagen. Aber schon bei deinem ersten Auftrag? Da habe ich dich wohl unterschätzt.»
Niko schwieg noch immer. Er stand bewegungslos da und zeigte abgesehen von regelmässigem Blinzeln kein Lebenszeichen. Angelika musterte Tanja von oben bis unten. «Traurig, traurig. Es ist nicht deine Schuld Kindchen, Niko hier hat das Ganze schwerer gemacht, als es sein sollte.» Tanja öffnete den Mund, «wie…» «Wie er versagt hat? Nun, du stehst vor mir! Unsere erste und wichtigste Regel ist, nicht einzugreifen, nichts zu verändern. Wir suchen nach der Wahrheit, um die Geschichte zu vervollständigen, aber das», sie zeigte auf Tanja und verwarf theatralisch die Hände, «du solltest tot sein meine Liebe. Das darf nicht sein.»
Tanja lief es kalt den Rücken herunter. «Aber ich werde nichts verändern, versprochen! Ich werde langweilig weiterleben, nichts erreichen, nicht berühmt werden…»
Angelika schaute sie gespielt mitleidig an, «auch wenn du das könntest, was ist mit den Menschen um dich herum, mit deren Leben du in Berührung kommst? Was, wenn du jemandem das Herz brichst und er daraufhin sein Leben umkrempelt, den Beruf wechselt? Was, wenn du jemanden anfährst, jemanden aufmunterst, jemandem das Leben rettest? Jeden Tag finden Tausende von kleinen Begegnungen statt, jede davon potenziell lebensverändernd. Deine Existenz könnte die Zukunft verändern, oder auch nicht, aber das ist nicht ein Risiko, das wir eingehen können.»
Tanja schaute hilfesuchend zu Niko, der sich noch immer nicht vom Fleck rührte. «Er kann dir nicht helfen, wie er auch seiner letzten sogenannten Rettung Kevin nicht helfen konnte. Ich habe ihn eingefroren, als ich hereingekommen bin», Angelika trat näher. Sie hielt die Spritze in der Hand die Peter zurückgelassen hatte.
Tanja war plötzlich ganz ruhig. Sie sollte eigentlich jetzt schon tot sein, doch sie lebte. So einfach würde sie nicht aufgeben. «Wieso hast du mich nicht eingefroren?» Angelikas Augen funkelten, als sie die Spritze in ihre Manteltasche steckte, «ich könnte jetzt vorgeben, dass ich dir in den letzten Momenten deines Lebens deine Würde nicht nehmen möchte, doch um ehrlich zu sein habe ich an ein wenig Gegenwehr nichts auszusetzen.» Sie legte den Kopf schief und taxierte sie mit ihren eisblauen Augen, «mein Job kann manchmal schrecklich eintönig sein.»
Tanja ballte die Fäuste, Adrenalin schoss durch ihren ganzen Körper. Trotzdem hatte sie gegen die Geschwindigkeit der Zeitreisedetektivin keine Chance. Angelika schoss nach vorne, und bevor sie reagieren konnte, lag Tanja ächzend auf dem Rücken, beide Handgelenke fest umklammert. «Langweilig», seufzte Angelika, die auf Tanjas Bauch sass und nicht einmal ausser Puste gekommen war. «Vielleicht sollte ich Niko bitten, das nächste Mal einen Wrestler zu retten. Jetzt halt still Kindchen, dann geht es ganz schnell», mit den Worten liess sie eines von Tanjas Handgelenken los, um nach der Spritze in ihrer Tasche zu greifen. Tanja schlug wild nach der Zeitreisedetektivin, doch diese wich mühelos aus. Wie konnte sie so schnell reagieren? Auf einmal dämmerte es Tanja. Mit einer verzweifelten, kraftvollen Bewegung streckte sie sich so weit es ging in Nikos Richtung. Ihre Fingerspitzen erreichten knapp seine untere Jackentasche und zogen hervor, was ihre einzige Rettung sein könnte.
Angelika fluchte, als sie erkannte, was Tanja vorhatte, doch es war zu spät. Wie zuvor im Café beschleunigte Nikos Rush-Watch augenblicklich alle von Tanjas Gedanken und Bewegungen. Sie verlor keine Zeit und stiess Angelika mit ihrer freien Hand von sich. Diese fing sich schnell ab, doch Tanja stand genauso schnell auf und trat mit ihrem Fuss nach der Spritze. Angelika wich aus, doch bevor sie aus Tanjas Reichweite kriechen konnte, trat ihr diese mit voller Kraft in die Rippen. Angelika heulte auf, brach zusammen und hielt sich die Seite. Tanja nutzte den Moment und trat mit ihrem Schuh auf die Spritze, die unter ihrem Gewicht zerbrach. Erleichterung durchflutete sie. Sie brauchte einige Sekunden, bis sich ihre Atmung beruhigt hatte, dann schaute sie Angelika in die Augen, die noch immer am Boden lag und röchelte.
«Lass Niko los», sagte Tanja leise. Als Angelika nicht reagierte, schnappte sie sich den Bumerang aus Nikos Griff und holte drohend damit aus. «Keine Ahnung, wie man das Ding wirft, aber ich bin mir sicher es tut auch so ziemlich weh.» Angelika blickte sie hasserfüllt an, ihr Gesicht war aschfahl. Dann schnipste sie widerwillig mit den Fingern. Eine Hand schloss sich um Tanjas Handgelenk und sie fuhr herum. «Ist gut Tanja», Niko lächelte ihr schwach entgegen und nahm ihr den Bumerang wieder ab. Ohne zu überlegen, liess sie das Holz los und begann, zu zittern. «Können wir bitte gehen?», fragte sie. Er nickte und drehte sich Angelika zu. «Wir gehen. Richte dem Inspektor aus, ich werde die Zukunft nicht gefährden. Wir bringen diese Sache in Ordnung.»
Angelika stiess ein gehässiges Lachen hervor, «du weisst schon, dass es nichts ändert? Sobald meine Knochen wieder heil sind werde ich euch finden, die Kleine wird sterben und du wirst für immer im Gefängnis schmoren.» Niko lächelte, «du darfst es gerne versuchen.» Dann drehte er sich um und legte Tanja den Arm um die Schulter. Gemeinsam liessen sie die Zeitreisedetektivin zurück.
«Tanja das war super, du hast uns das Leben gerettet! Danke!» «Keine Problem, auch wenn das mit den Rippen ziemlich eklig war», Tanja verzog das Gesicht, «wo gehen wir jetzt hin?» «Wir machen erst ein Nickerchen, dann schnappen wir uns deine Mörder und laden sie im Mittelalter ab. Danach sind wir auf der Flucht.» Tanja lächelte. Das klang nach einem Plan.
Ende
Photo by Owen Vachell on Unsplash
wow - das ist eine lange geschichte. toll geschrieben. hat dich dr. who inspiriert?